Wird ein Arbeitnehmer von Beginn des Arbeitsverhältnisses an und über mehrere Jahre einem anderen Konzernunternehmen überlassen, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung beschäftigt wird. In diesem Fall kann sich das entleihende Unternehmen nicht auf das Konzernprivileg berufen.
Neues bei der Konzernüberlassung: Was ist passiert?
Der Kläger war bei der S-GmbH vom 14. Juli 2008 bis zum 30. April 2020 als „Sitzefertiger“ angestellt. Die vertraglich geschuldete Tätigkeit verrichtete er allerdings nicht bei seiner Arbeitgeberin, sondern auf dem Werksgelände der Beklagten. Hierbei handelt es sich um ein Unternehmen der Automobilindustrie. Bei der Beklagten und der S-GmbH handelt es sich um konzernverbundene Unternehmen.
Der Kläger machte gerichtlich geltend, er sei bei der Beklagten unter Verletzung der Vorgaben des Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) als Leiharbeitnehmer eingesetzt worden. Demgemäß sei zwischen ihm und der Beklagten nach § 10 Abs. 1 AÜG i.V.m. § 9 Abs. 1 AÜG daher kraft gesetzlicher Fiktion ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen. Das Gesetz sieht vor, dass zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis zustande kommt, wenn der Arbeitsvertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer aus einem der in § 9 Abs. 1 AÜG geregelten Gründe unwirksam ist.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das LAG Niedersachsen ging davon aus, dass eine etwaige Überlassung des Klägers an die S-GmbH aufgrund des sog. „Konzernprivilegs“ zulässig war. Das Konzernprivileg ist nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG einschlägig, wenn eine Überlassung zwischen Konzernunternehmen nach § 18 AktG erfolgt und der eingesetzte Mitarbeiter nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt wird. In diesem privilegierten Ausnahmefall ist die Arbeitnehmerüberlassung von der Anwendung der wesentlichen Bestimmungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes befreit. Das LAG Niedersachen ging dem Wortlaut des Gesetzes folgend davon aus, dass diese Rückausnahme nur eingreift, wenn sowohl die Einstellung als auch die Beschäftigung zum Zweck der Überlassung erfolgt sind.
Damit erteilte es der richtlinienkonformen Auslegung des Konzernprivilegs, die das Wort „und“ in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG durch ein „oder“ ersetzt, eine Absage, da diese den Wortlaut der Norm gegen den Willen des nationalen Gesetzgebers ignorieren würde und dem Ausnahmetatbestand dann kein Raum mehr verbliebe.
Konzernprivileg: Entscheidung des BAG (Urteil vom 12.11.2024 – 9 AZR 13/24)
Das BAG sah das anders. Nach der Auffassung des BAG kommt das Konzernprivileg bereits dann nicht zur Anwendung, wenn der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung eingestellt „oder“ beschäftigt wird. Die Konjunktion „und“ in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sei nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich als Aufzählung der bezeichneten Sachverhalte zu verstehen. Wird der Arbeitnehmer seit Beschäftigungsbeginn über mehrere Jahre hinweg durchgehend als Leiharbeitnehmer eingesetzt, indiziere dies eine Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung.
Das BAG konnte die Sache im konkreten Fall jedoch nicht endgültig entscheiden, da in den Vorinstanzen nicht festgestellt wurde, ob der Kläger tatsächlich in die Arbeitsorganisation der Beklagten eingegliedert war und deren Weisungen unterlag oder allein die S-GmbH gegenüber dem Kläger weisungsbefugt war. Die Sache wurde daher an das LAG Niedersachsen zurückverwiesen.
Fazit
Die Entscheidung des BAG ergeht vor dem Hintergrund einer Diskussion um die Vereinbarkeit des „Konzernprivilegs“ mit der europäischen Leiharbeitsrichtlinie. Diese kennt – anders als das deutsche Recht – keinen Ausnahmetatbestand für die Konzernleihe.
Entgegen der Aufassung der Vorinstanzen hält das BAG es mit dem Willen des Gesetzgebers für vereinbar, wenn das Wort „und“ in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG im Sinne eines „oder“ ausgelegt wird. Ob dies angesichts des klaren Wortlautes der Norm der Weisheit letzter Schluss ist, darf zumindest kritisch hinterfragt werden. Es spricht aber viel dafür, dass das BAG vor allem aufgrund der europäischen Vorgaben eine Auslegung gewählt hat, die über die Wortlautgrenze hinausgeht. Um hierzu Genaueres zu erfahren, wird man allerdings die schriftliche Urteilsbegründung abwarten müssen.
Durch diese restriktive Auslegung des Konzernprivilegs wird der Handlungsspielraum der beteiligten Unternehmen deutlich eingeschränkt. In Fällen, in denen Arbeitnehmer nicht schon seit Beginn des Arbeitsverhältnisses und über mehrere Jahre einem anderen Konzernunternehmen überlassen wurden, kommt eine Ausnahme nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG aber auch weiterhin in Betracht. Den betroffenen Unternehmen ist jedenfalls zu raten, konzerninterne Arbeitnehmerüberlassungen kritisch zu überprüfen.